Melsungen - Am 9. November 2020 vollendete Harry Geier sein 85. Lebensjahr. Die sportlichen Leistungen des erfolgreichsten Senioren-Leichtathleten in Nordhessen fordern Anerkennung und Respekt.

Der Melsunger Juwelier erblickte in Karlsbad (Sudetenland) das Licht der Welt. Zehn Jahre später wurde er mit seinen Eltern und seinem Harry GeierBruder aus der Heimat vertrieben. Kindheit ade! Die Familie Geier fand zunächst in Eubach, später in Spangenberg und vor 65 Jahren in Melsungen eine neue Heimat.

Nach dem Besuch des Melsunger Gymnasiums arbeitete Geier zunächst als Betriebsinspektor, später als Fahrdienstleiter im gehobenen Dienst bei der Bundesbahn. Nach seiner Hochzeit (1965) mit Inge Seeger ging er 1968 nach Pforzheim, um das Uhrmacher-Handwerk zu erlernen. In den folgenden Jahren wurde der Uhrmachermeister ein erfolgreicher Geschäftsmann im Schmuck und Uhrengeschäft Seeger am Melsunger Marktplatz. Damals war Sport noch ein Fremdwort für den später erfolgreichsten Melsunger Sportler. Als er Mitte der 1970er Jahre mit dem Lauftraining begann, trabte er zunächst als Volksläufer durch die nordhessischen Wälder. Als seine Kondition immer besser wurde und das Laufen für ihn mehr als ein Hobby war, weil es Körper, Seele und Geist vereinte und somit etwas Ganzheitliches war, absolvierte Geier am 17. Mai 1981 auch einen Marathonlauf. Er bewältigte die längste olympische Laufdisziplin (42,195 km) nach 2:58,50 Stunden.

Danach begann für den spät Berufenen der sportliche Aufstieg vom Kreismeister zum Weltmeister. Der zweifache Familienvater begann unter der Anleitung von Alwin Wagner systematisch zu trainieren. Schon bald stellten sich die ersten Erfolge ein. Bei den Senioren-Landesmeisterschaften 1983 im Melsunger Waldstadion lief Geier das erste Mal eine Stadionrunde im Wettkampf und belegte den vierten Platz. Seit dieser Zeit ging es stetig bergauf.

Harry Geier war auf allen fünf Kontinenten sportlich unterwegs und kann mit berechtigtem Stolz auf viele Spitzenleistungen zurückblicken. An seinen persönlichen Bestzeiten von 100 Meter (12,66 sec.) bis hin zum Marathonlauf (2:58,5 Std.), die er alle jenseits des 40. Lebensjahres Harry Geier 1991erzielte, lassen sich seine läuferischen Fähigkeiten beeindruckend nachweisen. Mit Selbstdisziplin und Zielstrebigkeit sammelte der 85-Jähre in seiner langen Laufbahn über 30 Goldmedaillen und Meisterwimpel und setzte sich immer wieder neue sportliche Ziele.

Unvergessen bleiben die Siegs mit der deutschen 4x400m-Staffel 1991 in Turku (Finnland) und 2001 in Brisbane (Australien), wo das deutsche M65-Quartett mit 4:14,77 Minuten den Weltrekord verbesserte. Bei der Rückkehr durfte sich Melsungens sportlicher Botschafter in das „Goldene Buch“ der Stadt eintragen. Der mehrfache MT-Sportler des Jahres beherrschte in Deutschland die Stadionrunde und gehörte viele Jahre als Viertelmeiler in seiner Altersklasse zu den besten Läufern der Welt.

Bei der Hallen WM 2006 in Linz (Österreich) holte sich der inzwischen 70-Jährige mit 66,95 Sekunden den 400m-Weltmeistertitel und legte in der abschließenden 4x200m-Staffel den Grundstein für den deutschen Erfolg. Zwei Jahre später konnte das deutsche Quartett bei der Hallen-WM in Clermont-Ferrand (Frankreich) seinen Titel verteidigen und Harry Geier holte sich seinen fünften WM-Titel. Auch bei den Europameisterschaften war der Melsunger Senior sehr erfolgreich. Neben sechs Staffelsiegen gewann er 2006 in Posen (Polen) den 400m-Titel in der M70 mit 64,47 Sekunden. Ein Jahr später setzte er sich bei der Hallen-EM in Helsinki (Finnland) erneut über 400 Meter mit 66,90 Sekunden durch.

Seine fünf Titel bei den deutschen Meisterschaften – 2000 in Kevelar über 400 Meter der M65 mit 61,67 Sekunden, 2005 in Vaterstetten über 800 Meter (2:36,76 Min.) sowie drei weitere 400m-Erfolge in Erfurt (2006), Fulda (2007) und 2011 in Minden runden die einmalige sportliche Bilanz erfolgreich ab.

„Der Sport hat mich gelehrt, dass anstrengen sich lohnt“, sagte der Uhrmachermeister, der seit zwei Jahren aus gesundheitlichen Gründen seine Spikes an den berühmten Nagel hängte, aber noch immer halbtags trotz seiner 85 Jahre in dem von seinem Sohn Thomas geführten Geschäft mitarbeitet.


Text und Fotos: Alwin J. Wagner